Noch mehr Neubürger

sigma

Eigentlich dachte ich ja, dass sich die ganze Bürgerlichkeits-Neokon-Spießer-Debatte nun langsam in ihren wohlverdienten Ruhestand begibt, aber offensichtlich darf jeder mal. Heute also ein Einwurf von Jens Bisky in der SZ, wieder nicht online, und größtenteils auch zu vernachlässigen, weil der aus irgendeinem Grund „neue Bürgerlichkeit“, wenn es sie denn gäbe, nicht nur für eine erstrebenswerte Lebensform hält, sondern eben diesen Wunsch seltsamerweise auch noch der taz unterstellt, in der sie, so liest er das, beschworen wird, „als gelte es einen neuen Weg zum Heil zu erporben.“ Da muss ich was überlesen haben. Egal. Heute jedenfalls ist dort Jan Engelmann dran, der so wenig kapiert hat wie kaum jemand. Das fängt damit an, dass er sich an einer Debatte beteiligt, die er, beliebter Vorwurf, in erster Linie für eine eitle Nabelschau im Journalistenmillieu hält, und hört leider nicht damit auf, in die Empirie der Sigma-Millieus abzurutschen.

Zitat 1:
„Bei sämtlichen Feuilleton-Debatten steht eines ganz bestimmt nie zur Debatte: das eigene, enge Milieu der beteiligen Journalisten. So werden Partygespräche im Berliner Kollegen- und Bekanntenkreis umstandslos zu kulturellen Großwetterlagen hochgerechnet“

Keine Ahnung, wie etwas gleichzeitig zur kulturellen Großwetterlage hochgerechnet werden kann und doch gar nicht zur Debatte stehen, aber wie auch immer das gelingt: Die persönliche Befindlichkeit ist mir persönlich als Ausgangspunkt journalisitscher Themen oder Ideen immer noch lieber als ein sich an Zielgruppen und Marktforschungen heranschwänzelndes Servicegedudel („das wollen die Leute lesen“). Ins gleiche, nämlich ins eigene Fleisch, schneidet sich Engelmann auch mit dem Vorwurf, das alles sei ja auch nur in Berlin ein Thema: Das gilt zum einen für vieles, und führt trotzdem nicht zwangsläufig zu Schreibverboten, und ist, zum anderen halt Teil des Themas. Wo soll man denn sonst die Zunahme von Blumentöpchen im öffentlichen Raum als Symptom gesellschaftlicher Veränderungen deuten – im Voralpenland?

Im Wesentlichen stellt Engelmann die Debatte von den Füßen auf den Kopf:

Zitat 2:
Nur einmal angenommen, die Diagnose einer zunehmenden Verbürgerlichung ehemals linksalternativer und hedonistischer Milieus wäre kein Medienhype, sondern richtig ernst gemeint - woran ließe sie sich denn nachweisen? An der Stimmenverteilung bei Wahlen etwa?

Tja. Leider eben nicht mehr, war das nicht der Punkt? Dazu auch noch:

Zitat 3:
„Und in der Tat kann man, dazu bedarf es wohl keiner empirischen Forschung, sich sehr gut ausmalen, dass eine "freigesetzte" Webdesignerin, der es leider an so genannter Entlassungsproduktivität mangelt, einen festen Job zur Abwechslung mal ganz dufte fände. Aber die gerade kursierende Verbürgerlichungsthese besagt ja im Grunde, dass diese Suche nach einer "neuen Verbindlichkeit" (Michael Rutschky) bereits so weit geht, dass solche Leute gleich Merkel gut finden und damit ihre Zustimmung zu den bestehenden Verhältnissen demonstrieren.“

Das besagt vielleicht die verkürzte Interpretation dieser „kursierenden Verbürgerlichungsthese“. Die Langversion dagegen versucht so differenziert wie möglich die Frage zu klären, wie stark sich Stilfragen noch mit Lebensmodellen überschneiden. Interessant ist das vor allem deshalb, weil mittlerweile die schöne bunte Warenwelt da draußen voller ideologischer Energie steckt, weil sich also die Menschen sehr genau überlegen, ob sie ein Sofa bei Ikea, auf dem Flohmarkt oder im Stilwerk kaufen, einen iPod oder einen funktionstüchtigen MP3-Player, ein T-Shirt von American Apparel oder C&A. Das hat mit „Blumentöpchen“ und „Minigolf“ sehr wenig und mit „Retroposen“ gar nichts zu tun. Und darauf, was „solche Leute“ wählen, kommt es dann auch nicht mehr an. Das ist das große Mißverständnis: Das der Wahlzettel der entscheidende Beleg für die These von der „neuen Bürgerlichkeit“ ist. Er ist nur eine stilistische Entscheidung von vielen.
kubia - 31. Jan, 20:42

Wäre eine quantitative Zunahme der Möglichkeit, möglichst selbstbestimmt über Stilfragen und somit auch über "Lebensmodelle" verfügen zu können, nicht ein deutlicher Beweis für eine breite Verbürgerlichung?

die mechanische braut - 1. Feb, 10:40

Kommt wohl darauf an, was genau man unter dem Bürger versteht. Wenn man die Möglichkeit der stilistischen Differenzierung, die allerdings ökonomische Freiheiten erstmal voraussetzt (Zeit + Geld), als essentielles Merkmal deuten möchte, kann man da historisch wohl nichts dagegen einwenden. Aber dem Bürger im engeren Sinne der Debatte, ob Alt- oder Neokon, ging und geht dann doch das allzu selbstbestimmte Experimentieren mit Mode und Modellen zu weit, würde ich sagen: da zählt halt immer noch sowas wie "guter Geschmack". Der mag sich zwar von Zeit zu Zeit verschieben (gestern Hirschgeweih, heute Latte Machiatto), aber der Freiraum an sich wächst doch nicht wirklich, oder?
kubia - 1. Feb, 23:01

Dann finde ich die Debatte auch ziemlich überflüssig, denn auf diese Weise wird lediglich über die Frage nach der Bandbreite eh schon bürgerlicher Lebensstile diskutiert. Ob jetzt links-hedonistisch-bürgerlich oder wieauchimmer-kon bürgerlich, natürlich ist da die Grenze schwammig geworden. Ist ja auch kein Wunder, wenn man in erster Linie glaubt über Stilfragen zur Politik gelangen zu können. Deswegen war ja auch der Artikel von Mark Terkessidis so gut. Der Mensch hat alles richtig gemacht: Musikredakteur zu einer Zeit als Pop auf dem Siegeszug war, Publizist und wirklich selbständig, im besten Sinne indie, wenn man so will. Aber trotzdem darf er nicht dazugehören und das, so vermute ich mal, liegt eben nicht an den Lebensstil-Fragen, sondern an seinem politischen Engagement für Ausgegrenzte (der unhippe Migrant und Asylbewerber), den Themen seiner Bücher (Psychologie des Rassismus!) usw. Ob er da jetzt einen iPod oder iRiver in der Tasche hat, ist dann erstmal unwichtig. Und so sollte man diese Debatte vielleicht auch sehen. Ob Blumfeld jetzt auf dem FDP-Parteitag spielen oder auf dem NoBorder-Camp ist für Blumfeld eben keine Stilfrage, wie vielleicht für den Poschardt, denn dadurch kommen Leute, es kommt Geld in die Kasse und damit kann man politische Aktionen finanzieren.
Dass der Freiraum wie du vollkommen richtig bemerkst, nicht wächst, hat doch in erster Linie ökonomische Gründe, oder nicht? Wenn man z.B. mal so 7 Jahre zurückdenkt in die Hochzeit der New Economy, da war ein pluraler Lebensstil doch der Normalfall. Womit wir wieder am Anfang wären.
kubia - 1. Feb, 23:03

Ach ja, American Apparel ist eben ein gutes Beispiel für die Entpolitisierung. Zwar als korrekte Firma werben, aber Probleme machen, wenn die Angestellten gewerkschaftlich organisiert sind. Schon ein wenig merkwürdig, oder?
a_plus_c - 2. Feb, 14:54

das ist ja alles so schlecht. wirklich, wer braucht das? der journalist will jetzt auch in blog machen, weiss aber gar nichts zu sagen. also: losblubbern.
weil mittlerweile die schöne bunte Warenwelt da draußen voller ideologischer Energie steckt
was du nicht sachst, alter: du bist ja ein richtiger checker, ganz weit vorn, wie? lebst wohl in berlin, grosse stadt?!
einen iPod oder einen funktionstüchtigen MP3-Player
bevor einer wie du apple bashen darf, musst du dir erst mal dein digitales eigelb hinter den öhrchen abwischen; da hilft dir auch dein pro-seminar mccluhan nicht.
"die mechanische braut" als blog-titel -- du, es gibt für leute wie dich wirklich hilfe, ehrlich . . .

die mechanische braut - 2. Feb, 15:12

In der Titanic gab es irgendwann mal eine Liste eckliger Wörter, da wäre "in Blog machen" ziemlich sicher sofort aufgenommen worden. Nein: Will ich nicht. Aber ich habe den Begriff weder erfunden noch werde ich mittelfristig etwas daran ändern können, dass Menschen glauben er wäre Ausdruck irgendeines Zusammengehörigkeitsgefühls. Wenn du willst: Ich bin gar kein Blogger. Aber das klingt dir jetzt vermutlich auch wieder zu elitär.
Ich glaube ja, dass Jean-Remy von Matt solche Leute wie dich gemeint hat mit seinen Klowänden. Ich selbst muss mir noch überlegen, ob ich solche Reaktionen jetzt eher eklig oder auf perverse Art interessant finde. Ach ja: Apple bashen darf übrigens wirklich jeder. Zumindest in Berlin.
blogger.de:the-mule - 29. Mai, 20:43

Leider etwas spät

weil ich heute erst wieder den Bisky-Text gelesen hab: der Fehler, der hier in der Debatte gemacht wird ist doch schlicht der, daß man nicht auf Biskys SOZIOLOGISCHES Argument eingegangen ist, daß Bürger-sein eben gerade keine Lifestile-Frage ist, wie es die Trollis mit den Polohemden gerne hätten. Insofern ist seine Kritik schon ganz hervorragend.

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Über Die mechanische Braut

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Marshall McLuhan: "Die mechanische Braut"

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